Im Einklang mit der Natur
Im Gespräch mit Prof. Werner Sobek, Architekt und Ingenieur
« Meine Häuser können einen Tag stehen oder hundert Jahre. Wichtig ist einzig und allein, dass sie mit Anstand von der Erde verschwinden können.»
Prof. Werner Sobek, Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender der Werner Sobek AG, berichtet im Gespräch mit Christine Dietrich und Martin Ebert von seinen Erfah- rungen mit Leichtbau und Zirkularität. Er nennt auch mögliche Strategien, die dabei helfen sollen, den Heraus- forderungen der Klimakrise zu begegnen.
Was kam zuerst: Architekt oder Bauingenieur?
Eigentlich wollte ich Bühnenbildner werden. Das Ingenieur- studium war eher eine zufällige Entscheidung. Aber nach sechs Wochen war mir klar: Da lernt man lediglich im Sinne einer Analyse, wie die Welt funktioniert; auf die Idee, das Ganze anders zu gestalten, kam man dabei nicht. Über einen Freund bin ich dann zu Architekturvorlesungen gekommen. Und danach begann ich gezielt, mir mein Wissen so zusammenzustellen, wie ich es für sinnvoll hielt. In diesem Kontext bin ich auch zu Frei Otto gekommen.
Ist dies etwas, was Sie bis heute tun? Dinge anders angehen als andere?
Anders sein um des Anders-Sein-Wollens? Das interessiert mich nicht. Mir geht es um das Verstehen. Beim Leichtbau sind gekrümmte Flächen und gekrümmte Linien das A und O. Wenn man diese beherrschen will, musst man sich mit Differenzialgeometrie auskennen. Den Leichtbau, wie ich ihn seit vielen Jahren praktiziere, musste ich mir als Lehrinhalt selbst zusammenstellen aus Elementen des Flugzeugbaus, des Karosseriedesigns und des Gestaltens mit Stoff.
Wie verhalten sich Leichtbau und Effizienz zur Nachhaltigkeit?
Nachhaltigkeit und Leichtbau sind eng miteinander verbunden, bedingen sich aber nicht zwangsläufig. Der Begriff der Effizienz fiel früher höchstens im Sinne von: je leichter, desto besser. Meistens haben wir von Optimierung gesprochen, von der Minimierung des Materialverbrauchs.
Sind dieser Effizienz auch Grenzen gesetzt? Wir sprechen beim Leichtbau oft von hochtechnischen Gebilden. Wie könnte man diese Ideen beispielsweise auf den Globalen Süden übertragen? Dort fehlen oft die technischen Möglichkeiten oder das entsprechende Know-how.
Völlig richtig. Die Projekte, die wir in den letzten Jahrzehnten entwickelten, haben die Grenzen des Machbaren verschoben. Sicher waren dies oft Hightech-Lösungen. Aber diese lassen sich irgendwann auch herunterbrechen. Am Anfang war ein Transistor so gross wie eine Handfläche, heute haben wir Millionen davon auf einem Chip. Ähnlich verhält es sich im Leichtbau: Was vor 20 Jahren noch Hightech war, zum Beispiel Kohlefaser, ist heute längst Standard.
Architekten behaupten gerne, dass langlebiges Bauen automatisch nachhaltiges Bauen sei. Warum reicht Ihnen diese Definition nicht? Weshalb haben Sie als einer der ersten zusätzlich auf Recyclinggerechtigkeit gesetzt?
Ich empfand solche Aussagen immer als etwas fast Blasphemisches. Ich verwende stattdessen lieber den Begriff der ephemeren Architektur. Meine Häuser können einen Tag 4 RATIO stehen oder hundert Jahre. Wichtig ist einzig und allein, dass sie mit Anstand von der Erde verschwinden können. Das heisst, sie müssen vollständig in technische oder biologische Kreisläufe rückführbar sein. Es darf nichts übrig bleiben, das anderen Generationen ein Problem bereiten könnte.
Welche Projekte waren für Sie besonders prägend – und warum?
Spätestens mit der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls im Jahr 1997 rückte die Emissionsfrage ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit – und mir wurde klar: Wir setzen auf das falsche Pferd. Das Problem ist nicht die Energie, es sind die Emissionen. Daraus entstand mein Konzept «Triple Zero»: Unsere Gebäude sollen weder bei der Herstellung noch im Betrieb Emissionen ausstossen, sie sollen keinen Abfall erzeugen, zu hundert Prozent recyclebar sein und vollständig auf verbrennungsbasierte Energie verzichten. Dann wollte ich mir privat ein Haus bauen und dachte: Nun muss ich das auch selbst umsetzen. Das Haus R128 gewinnt deshalb die gesamte Energie, die es benötigt, aus nachhaltigen Quellen – und hat natürlich keinen Schornstein. Es ist emissionsfrei. Und es ist zu rund 95 Prozent recyclebar. Das war das erste wegweisende Projekt für mich. Zwei weitere Häuser folgten im gleichen Sinne: das Plusenergiegebäude F87 in Berlin und das Aktivhaus B10 in Stuttgart. Damit war für mich die prinzipielle Fragestellung beantwortet, wie man masse-, abfall- und emissionsarm bauen kann. Denn Energie ist nicht das Problem, man muss sie nur emissionsarm her- und bereitstellen.
Je mehr ich über diese Art des experimentellen, nachhaltigen Bauens erfahre, desto mehr glaube ich, dass man auch anders denken muss.
Die ganze Gesellschaft muss anders denken. Was wir als Erstes benötigen, ist eine Abkehr vom Anspruchsdenken der Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen weg von der Idee der Vollkasko-Gesellschaft, denn diese Haltung ist ein Innovationshemmer par excellence. Keiner bewegt sich mehr jenseits dessen, was üblich ist, weil er sich ansonsten sofort vorwerfen lassen muss, er habe die anerkannten Regeln der Baukunst verlassen.
Dabei ist die Zielformulierung im Bauen klar benennbar. Wir brauchen ein Szenario für den Emissionsausstieg. Wir müssen festlegen, dass wir von heute bis 2045 die beim Bauen anfallenden Emissionen – sowohl graue als auch Betriebsemissionen – Jahr für Jahr um eine bestimmte Menge reduzieren. Und dies wird nicht gehen ohne Innovation. Und selbst dann bleibt irgendwann ein Rest, der nicht mehr absenkbar ist.
Wie sehen Sie dabei die Rolle der Planenden?
Die Planenden müssen diesen gesamtgesellschaftlichen Diskurs entzünden, da es Medien und Politik nicht schaffen. Oder nicht wollen.
Aber wie schafft man es, Dinge global zu verändern? Muss man nicht eher versuchen, projektweise Schritt für Schritt jedes Mal das Richtige zu tun?
Die Erfahrung zeigt, dass auf diese Weise zu wenig Leute erreicht werden, im Wesentlichen nur die Projektbeteiligten.
Wenn ich an den Erfolg des Leichtbaus denke, der aus einer fast esoterischen Bewegung hervorging, die sich für Spinnennetze interessierte: Daraus wurde dann ein Olympiastadion-Dach oder eine vorgespannte Decke. Denken Sie nicht, dass man heute auf ähnliche Weise Erfolg haben könnte?
Wenn die Menschen unsere Experimentalbauten wie R128 oder UMAR sehen, sagen sie fast automatisch: «Das ist fantastisch, das ist atemberaubend, das ist schön.» Wenn wir im Einklang mit der Natur bauen, verstehen die Menschen dies intuitiv und schätzen es.
Wenn wir Planende solche Diskussionen anregen sollen, dann brauchen wir Begrifflichkeiten, die die Menschen verstehen.
Genau. Die Kommunikation muss für die allgemeine Bevölkerung verständlich sein und zugleich emotional wirken. Sie muss etwas transportieren, das mich mitnimmt, das ich nicht einfach zur Seite wischen kann.
« Anders sein um des Anders-sein-wollens? Das interessiert mich nicht. Mir geht es um das Verstehen.»
Ist unser Problem, dass wir nur schwer an die Fragestellung anknüpfen können: Wie nehmen wir uns zurück? Wie bauen wir weniger oder eben nicht mehr?
Das mit dem Bauen oder Nicht-Bauen ist so eine Sache. Man könnte verkünden: Ich baue nicht mehr. Aber das können wir den Leuten im Globalen Süden nicht sagen, die beispielsweise eine Kläranlage bauen wollen. Das wäre anmassend. Ausserdem geht es nicht darum, ob ich baue oder nicht. Oder ob ich mit Ziegeln baue, mit Beton, mit Holz oder mit Plastikabfall. Sondern es geht darum, was ich damit verursache: Flächenverbrauch, Versiegelung, Emissionen, Müll.
Das sind vier messbare Kriterien. Diese kann ich anwenden – und so feststellen, ob etwas sinnvoll ist oder eben nicht. Natürlich ist es richtig, dass in einer tragenden Betonkonstruktion viel graue Energie steckt. Das heisst aber nicht, dass man diese Konstruktion nicht zurückbauen und rezyklieren kann. Entscheidend ist, wie viele Emissionen dabei entstehen und wie viele Ressourcen ich verbrauche.
Flexibilität ist ein weiteres Stichwort: so bauen, dass ich ein Gebäude umnutzen kann.
Eine Umnutzung zu planen, setzt voraus, dass ich heute weiss, was morgen richtig ist. Das ist nur bedingt möglich. Wir sollten eher über unsere Zielformulierung sprechen. Die Entscheidung, ob ich etwas tue oder nicht, war bisher stark durch finanzielle Überlegungen geprägt. Künftig muss diese Entscheidung aber durch ökologische Überlegungen geprägt sein. Und nun kommen wir zu einem fundamentalen Zielkonflikt. Denn ich erfülle entweder das finanzielle Ziel oder das ökologische – oder ich erfülle beide nur bedingt. Angesichts dieses nicht aufzulösenden Zielkonflikts sollten wir uns eingestehen, dass wir eine neue Zielformulierung brauchen, und die heisst: Bauen im Einklang mit der Natur.
Wie schaffen wir es trotzdem? Ich glaube, dass die Gesetzgebung hier eine ähnliche Rolle spielen wird wie bei den Autos, die plötzlich zu 80 Prozent recyclebar waren, nachdem eine entsprechende Richtlinie eingeführt worden war. Dann wären wir Bürgerinnen und Bürger, die unter einem Diktat leben. Nietzsche spricht von drei Stufen des Menschseins. Die allerunterste Stufe könnte man überschreiben mit «ich soll». Die mittlere Stufe heisst «ich will». Und die oberste Stufe heisst «ich bin». Diese höchste Stufe des Glücks sollten wir anstreben: ich bin. Mündige Bürgerinnen und Bürger, die sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind. Bei allem, was sie tun – insbesondere, wenn es um das Bauen geht.
Was heisst das konkret?
Wir haben den Zusammenhang zwischen Energie, Emissi- onen, Ressourcen und Abfall verstanden und entsprechende Lösungen entwickelt. Nun sollten wir uns auf das recycling- gerechte Bauen und das Bauen mit Rezyklaten konzentrieren. Wenn wir über recyclinggerechtes Bauen sprechen, können wir das sowohl auf der Ebene der Bauteile als auch auf der Ebene des gesamten Gebäudes diskutieren. → «Einblick», S. 10 Auf der Bauteilebene habe ich 1992 den Begriff «Bauweise» eingeführt, der aus dem Automobil- und Flugzeugbau stammt. Dort weiss man von vornherein: Wenn ich das Bauteil so und so zusammensetze, dann habe ich später kein Recyclingproblem. Dann stellt sich die Frage, wie ich dokumentiere, was ich gemacht habe, damit man in 50 Jahren noch weiss, welche Baufirma welches Material wie eingesetzt hat. Und zum Schluss sind wir auf der Ebene des Gebäudes, bestehend aus einer Reihe von Bauteilen. Da besteht die Aufgabe darin, die Bauteile so zu planen, dass sie einfach entnommen werden können. Ich spreche hier gerne vom Dekomponieren: Die Bauteile müssen als solche erkennbar sein, die Verbindungsmittel müssen identifizierbar bleiben.
Also müsste man bei Gebäuden immer die Verbindungen dokumentieren und auch eine Anleitung des Auseinander- nehmens verfassen.
Das ist relativ einfach. Im Automobilbereich sind solche Dokumentationen gang und gäbe.
Die meisten Architektinnen und Architekten entwerfen nicht mit der Vorstellung, wie etwas hergestellt oder später wieder auseinandergebaut wird.
Bei der Konzeption eines Raumes oder eines Gebäudes ist das Konstruieren und das Zusammenfügen der Struktur häufig ein nachgeordneter Prozess. Ich glaube, dass der Gedanke von Design for Disassembly nicht zwingend Bestandteil des ersten Strichs sein muss, wenn man gestalterisch eine Idee entwickelt.
«Es geht nicht darum, ob ich baue oder nicht, ob mit Ziegeln, Beton, Holz oder Plastikabfall. Es geht darum, was ich damit bewirke: Flächen- verbrauch, Versiegelung, Emissionen, Müll.»
Das ist beruhigend zu wissen und dürfte vielen Architektinnen und Planer – und hoffentlich auch Bauherren – die Angst davor nehmen, das Thema Design for Disassembly anzugehen.
Zum Schluss möchten wir Sie noch um drei Gedankenanstösse bitten: Wie können wir die Welt nachhaltiger gestalten?
Der erste Gedankenanstoss ist: Bauen muss künftig ein Bauen im Einklang mit der Natur sein.
Der zweite ist die Erkenntnis, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein atmosphärenschädliches Verhalten keine auf den Verursacher beschränkte Tat mehr ist. Sie betrifft alle anderen Menschen gleichermassen.
Der dritte ist die voraussetzungslose Wertschätzung des anderen als eines Menschen von gleicher Würde.
Kontakt
Unsere Portfolio Managerin in Sustainable Construction Frau Christine Dietrich steht für Fragen gerne zur Verfügung.
E-Mail: christine.dietrich@holcim.com
